Und sie bleiben zurück.
Sie bleiben zurück: mit ihren Füßen, die stets draufzugingen und sich, wenn, dann nur zögernd entfernten; mit ihren unruhigen Händen; mit Nasen, die sich an den Geruch der Schädelhaut über der Fontanelle erinnern, der sich lange auch noch in den Haaren gehalten hat; mit Bäuchen, in denen Angst wohnte, die manchmal erklärbar, immer mächtig war; mit Mündern, die um Worte gerungen, Hirnen, die Kompromisse ertragen, Hälsen, die Einsichten geschluckt und an Niederlagen gewürgt haben. Mit ihren riesengroßen Herzen.
Sie bleiben: mit den Gegenständen, die zurückgelassen werden („Könnt ihr behalten.“); mit den Menschen, die sie bis eben noch waren („Hast du schon mit deiner Mutter darüber gesprochen?“, „Wie findet das dein Vater?“); mit der frischen Luft, die durch die immer noch offen stehende Wohnungstür eindringt, während sie hinter der Erdkugel her lauschen – irgendwie unverbindlich, irgendwie allein. Ein Poltern im Parterre, dann schlägt die Haustür. Dann beginnt ihr Abenteuer.
Stimmt. Abenteuer ist ein Wort für hinterher. Etwas zum Erzählen, wenn alles wieder gut ist. Nur gibt es in diesem Fall kein Hinterher. Sobald die Kinder aus der Tür sind, beginnt das Leben ohne sie. Man gerät aus dem gewohnten Umfeld. In einen Alltag, der anders ist als alle Tage.
„Na. Lass dich mal drücken“, sagt „dein Vater“, nachdem er die Wohnung von innen abgeschlossen hat und bevor er das Licht im langen Korridor löscht, der mal eine Rennstrecke war („In der Wohnung wird nicht gerannt!“), ein Fußballfeld (von den Ballspuren an der Tapete springt ihn Wehmut an) und der in die Tür zum Fernsehzimmer mündet, die einzige, die man abschließen konnte, zum Beispiel um eine Folge „Breaking Bad“ nach der anderen zu sehen, während draußen in der Wohnung die abendlichen Verhandlungen um den Abwasch geführt, Klagen verworfen wurden und Widerstand brach.
Ist nun alles Präteritum?
„Jetzt nicht“, antwortet „deine Mutter“, nachdem sie abgewinkt hat und bevor sie sich endlich bewegt. Auf einer viel höheren Ebene als ihr Mann natürlich – auf der Cloud aller Mütter, wo das „Wie am besten?“ und das „Warum klappt das nicht?“ und das „Keine Sorge, alles wird gut“ lagert. Und sie spürt bereits, wie ihre Schnittstellen verkümmern, weil sie keine Verbindung in die über allem und allen hängende Wolke mehr herstellen muss, zu den Müttern dieser Welt und den Generationen vor ihnen, und sie fragt sich, mit wem sie denn nun den lieben langen Tag reden soll. Sie geht in Richtung Küche, schaut sich um, tappt mit angestrengtem Gesicht in die Leere hinein, als handle es sich dabei um die gasförmige Fülle an nicht vorhandenen Möglichkeiten.
Präteritum bedeutet: vorbei.
„Ach, komm!“, lässt ihr Mann nicht locker („Das Leben geht weiter“). Er setzt ihr nach, ergreift ihren Arm, sachte nur, trotzdem verpasst sie ihm zur Antwort einen Blick, dem er entnimmt, dass gerade eben die Verbindung zwischen ihnen beiden gerissen ist. Noch nie mochte sie es, wenn er sie festhielt, beklagt der Blick außerdem. Und behauptet (wie gehabt), dass auch die körperliche Nähe nicht durch Körperkontakt erschaffen wird. Und er, der an Veränderungen genau genommen nicht mag, wie sich seine Frau unter ihnen verändert, ist zufrieden, weil doch alles beim Alten zu sein scheint, schreitet übers Fußballfeld (zugegeben, die Ballspuren an der Wand sind knapp zehn Jahre alt) und schließt wie gehabt die Fernsehzimmertür hinter sich ab.
Es vergehen Tage und Wochen. Vorwärts verläuft die Zeit, doch Fortschritte macht sie keine. Denn „deine Mutter“ dreht, in entgegengesetzter Richtung durch die Jahre hastend, an der Uhr. Sie läuft durch die Stadt, zum ersten Mal schwanger, zu sehen ist noch nichts, jedoch zu spüren, und sie spürt, dass sie nun Teil der ganz großen Weltbewegungen ist: unter der Sonne, die Licht und Wärme verteilt, auf dem Boden, der sich verausgabt, mit dem raren Wasser und der empfindlichen Luft – dass sie kein Mädchen mehr ist, sondern ein Mensch. Geschaffen dafür, einen anderen Menschen an diese Welt zu binden. Sie wird verantworten, was geschieht, wird gestehen und ausbaden und wiedergutmachen – sie weiß jetzt, wer sie ist und dass die Frage, was sie eigentlich einmal werden will, sie bislang vom Wesentlichen abgelenkt hat.
Dann, nachdem sie ihre erste Geburt zustande gebracht hat, liegt sie, den Kopf in den Arm gestützt, neben dem Säugling. Sie kennt schon: seine Atemlaute, Hungerlaute, Trinklaute, Kacklaute, Badelaute, Ärgerlaute, Schlaflaute, Traumlaute. Alles kennt sie, alles! Zunächst mit den Augen, dann mit dem Hirn erfasst sie die Dimensionen: das kleine Kind und das große Zimmer, das Kind und das Haus, die Stadt, das Land, der Planet. ‚Wie verdammt verletzbar ich von jetzt an bin’, stellt sie fest. Tage und Wochen vergehen. Wenn sie sich beim Abendbrot einander gegenüber sitzen, schiebt „dein Vater“ fast unmerklich mit dem Fuß den leeren Stuhl weg, der an der rechten Tischseite steht, sozusagen zwischen ihm und „deiner Mutter“. Das macht ein fieses Geräusch auf den Dielen, als sei nicht richtig, was geschehe, und wenn er dann auch den linken Stuhl wegschieben will, merkt er, dass seine Frau ihn mit ihrem Fuß festhält. Wann, fragt er sich, haben sie beide aufgehört, die Buchstaben festzuhalten, die zwei a, die ein Paar im Kern so schön kompakt machen? Wie konnte sich der Nachwuchs dazwischenschieben? Wie konnte er, nachdem er rauswuchs, dort bleiben?
In Gespräche setzt er seine Hoffnung. Also beginnt er sie mit Sorgfalt: Ob sie was von den Kindern gehört habe. Er wiederum hat gehört, dass Kinder es nicht mögen, wenn man ihnen hinterhertelefoniert, dass sie die Frage „Wie geht’s?“ grundsätzlich nicht ehrlich beantworten und dass „Ich wollt nur mal hören ...“ keine taugliche Fassade ist. Wenn er nach Hause kommt, telefoniert seine Frau. Er will sie retten. „Jetzt bin ich ja da“, flüstert er ihr ins freie Ohr, doch sie fuchtelt und stürmt mit dem Hörer aus dem Zimmer. Es war gar nicht eines der Kinder am Telefon. Sondern. Er weiß es nicht. Und fragt sich, ob sie auch über ihn spricht, wenn sie telefoniert, und wenn, dann wie? Sie kann ihn ja wohl nicht „dein Vater“ nennen.
Monate vergehen. Am liebsten ist ihm, sie lassen sich gemeinsam zurückfallen in vergangene Zeiten, anstatt jeder für sich. Dann achtet er drauf, dass es ein spaßiger Rückfall wird oder – noch besser, aber leider selten – sogar einer, den sie mit „Das ist ja jetzt zum Glück vorbei“ beenden. Seine Frau trägt die Erinnerungen aus wie einst die Schwangerschaften, bringt Mutter-Vater-Kinder-Fotos zur Welt, die sie rahmt und aufhängt, irgendwie immer so, das sie im Weg sind. Gegen die meisten Bilder hat er etwas einzuwenden, er mag nicht, wie er mal aussah. (Diese labile Beschaffenheit des Körpers, die modisch-stilistischen Ausrutscher, augenscheinlich war nie etwas Wesentliches in ihm, das standhalten konnte und woran man ihn wiedererkennt – da fällt ihm nur das Küchenwort gehenlassen ein!) Doch sie sagt, er sei doch jetzt hier gar nicht von Bedeutung.
Kinder zu haben, resümiert sie, „das war unser erstes gemeinsames Abenteuer.“ Er legt das Männermagazin beiseite, das er neuerdings kauft, und hört ihr zu. Jedoch, sagt sie, wäre das Elternsein kein Spielplatz gewesen. ‚Diese Frau ist gut’, denkt er, ‚eigentlich hab ich das immer gewusst.’ – „Obwohl“, sagt sie. Eine Taktik hätten sie schon gebraucht. Oder anders ausgerückt, jeder hätte sich an die Verabredungen halten sollen. Sie erwähnt die Verteilung der Aufgaben, gebraucht die Wendung „was alles zur so genannten Erziehung dazugehört“ und behauptet, dass sie zuweilen nicht gewusst habe, wer eigentlich ihr Hauptgegner war. Er denkt: ‚Ist das ein Resümee oder eine Abrechnung?’ Er fragt sich, ob er sich äußern soll (Jetzt? Überhaupt?), er kennt sich da nicht so aus. Vielleicht, meint sie nun, sollten man die Karten noch einmal neu mischen.
‚Das Leben geht nicht weiter’, denkt er, ‚es nistet sich ein.’ Noch Jahre nachdem seine Frau das letzte Kind abgestillt hatte, war ihr, wenn in der Nähe ein Baby schrie, die Milch eingeschossen. „Na, das ist ja jetzt vorbei“, hatte er eines schönen Tages zufrieden konstatiert – jedes Mal, wenn er einen Blick auf ihre funktionsträchtigen Brüste erhascht hatte, war eine anschwellende Missgunst, ein schlechtes Gewissen zu spüren gewesen –, doch damit hatte er sie zum Heulen gebracht.
Männermagazin oder Unterhaltung am Frühstückstisch? Sie spricht weiter. Es hört sich an, als wären die Kinder nicht nur das erste, sondern auch das letzte gewesen, was es gemeinsam zu erleben galt.
Monate verstreichen, sie verreisen. Es geht am frühen Morgen zu zweit die Treppe runter, zu zweit auf die Rückbank des Taxis, zu zweit über den Flughafen aufs Terminal zu; zum ersten Mal seit Langem nur sie und er und sie sagen dazu: allein. Bei der Reiseplanung hatte keiner ein Wollen, eine Sehnsucht, eine Absicht parat und sie einigten sich auf mal schauen, dann weitersehen. Bereits beim Einchecken am Flughafen ist, was ihnen bereits schwante, offensichtlich: Auch wenn man in sie verschossen und mit ihnen verwachsen ist, sind Kinder Gepäck. Aber weder „deine Mutter“ (die Entdeckung beschämt sie), erst recht nicht „dein Vater“ (Vorsicht ist geboten!) sprechen das aus. Es folgen zehn Tage ohne Bagage, in denen sich herausstellt, dass Mutter und Vater Rollen waren, die man besetzte, indem man Wünsche, Sehnsüchte und Absichten, die allein mit einem selbst zu tun hatten, weitgehend ignorierte.
Am Ende einer friedvollen Reise, nach zehn Tagen, in denen „dein Vater“ darüber gestaunt hat, dass seine Frau 1. schön ist, 2. eine treue Seele und 3. klug, erhebt endlich auch er seine Stimme für das Leben nach dem Präteritum, das dringend in Worte gefasst und mit Wendungen in Schwung gebracht werden will. Elternschaft sei ein großes Schauspiel. Waghalsig, weil man teilnehme, ohne zu wissen, ob man’s könne. Weil Scheitern nicht infrage komme.
Sie sitzen auf einer zerschossenen Hafenmauer, er trägt eine Modern Fit Cargo Short und Turnschuhe. Nach der Premiere ziehe sich die Aufführung so lange hin, dass man altere. Aber man werde auch besser. Und eines Tages sei das Stück abgesetzt. Es bleibe: spielfreie Lebenszeit! Sie sitzen mit Blick auf die rote Sonne, die schnell sinkt, so dass er zum Ende kommen muss, und seine Frau trägt keinen BH. Und da stelle sich heraus, dass Liebe, Erotik und Sex zwar eng mit der Fortpflanzung verbunden sind, jedoch die Aufzucht der Brut nur einer der Gründe ist, warum Mann und Frau diese Erlebnisse zuteil werden. „Deine Mutter“ schaut auf die Stelle am Horizont, wo die Glut eben unterging. Wind kommt auf. „Dein Vater“ fügt hinzu: „Vorsicht, Nippelalarm!“
Seit dem einen Tag, an dem die Tür sehr weit geöffnet wurde, ist die Wohnung größer geworden. 24 Stunden weiten sich zu einem Lebensabschnitt aus. Und manche Worte haben eine neue Bedeutung. Ein Tag ist nicht lang, wenn er gefüllt ist mit Dingen, die es zu erledigen gilt, sondern wenn er voller Möglichkeiten ist. „Deine Mutter“ kann das Allein spüren. Zum Beispiel umhüllt es sie wie eine Decke, unter der nur sie selbst Wärme erzeugt. Der Puls, der ihr zuweilen zu schaffen macht, kommt nur vom eigenen Herzschlag. Das Allein ist ein Staubsauger in ihrem Kopf, der Gedanken verschlingt, die sie nicht gebrauchen kann; zurück bleibt ein freundlicher leerer Raum. Das Allein tilgt den magischen Sinn für Schmerz, Sorgen und Unglück anderer, spannt ihr die kräftezehrende Empathie aus, bringt sie ab von der Angewohnheit ab, an Unausgesprochenem, Vermutetem und Gefürchtetem zu leiden. Und das Beste: In den Nächten hockt es sich zwischen Ohren und Hirn, kappt die Verbindung, die jede Mutter ständig aufrechterhält, weil sie nicht weiterschlafen will, wenn sie etwa gebraucht wird.
Gefühlt ist es nun schon eine ganze Weile her, dass „deine Mutter“ und „dein Vater“ – plötzlich kinderlos – nicht mehr die passenden Anreden füreinander hatten. Dass sie sich fühlten, als würde ihre Welt davonrollen, obwohl sie doch wussten, dass eine Kugel, um sich zu bewegen, angestoßen werden muss. Für die Kinder ging es schon ab dem zweiten Lebensjahr um das, was all ihre Beziehungen prägen wird: um die richtige Mischung aus Distanz und Nähe, Geborgenheit und Eigenständigkeit. Dass sich die Trennung, die erst jetzt erwiesen ist, schon seit Langem vollzog, war zu bemerken. Die bedingungslose Freude der Kinder beim Anblick der Eltern nahm ab. In der Pubertät verschwand sie ganz – nicht wirklich, aber sie zeigte sich kaum noch. Geschwächt und verletzt hatten Mutter und Vater weiter die Hauptrolle zu spielen: Es war ihre Aufgabe, sich zu trennen. Denn ein Kind, das auf die Eltern angewiesen ist, bekommt nicht das eigene Leben, das sie ihnen vorgeblich geschenkt haben. „Deine Mutter“ und „dein Vater“ merken es erst jetzt: Schon bevor sie kinderlos waren, ließen sie los.
Er hat sich ein Motorrad gekauft. Er wünschte, sie würde ihn drum bitten, ihr sofort, wenn er sein Fahrziel erreicht hat, eine Nachricht zukommen zu lassen. Doch sie macht sich keine Sorgen mehr. Sie wacht morgens noch immer sehr früh auf. Wenn er aufsteht, hat sie schon gefrühstückt und sagt: „Lass es dir schmecken!“. Aber der Tisch ist leer. Sie hat sich dran erinnert, wie sie ihn genannt hat, als sie noch keine Kinder hatten, und so ruft sie ihn jetzt wieder. Peinlich ist das. Wenn er sich beschwert, beschwert sie sich, dass ihr niemals ein Kosename zuteil wurde. Er sagt „Hey“, wenn er sie abends anruft, um ihr mitzuteilen, dass er gleich nach Hause komme. Sie hat sich einen Zimmerschlüssel anfertigen lassen. Es ist ein Abenteuer. Etwas zum Erzählen, jetzt, da alles wieder gut ist. Da die Dinge wieder so laufen wie gehabt. Da sie wissen, wo entlang und wie. Da sie das, was sie für ihr Leben halten, wiedererkennen, vor allem sich selbst.
Nadja Klinger