Als der Wunsch geboren wurde, waren wir alle noch nicht auf der Welt. Wesen, die ihre fast unbehaarten Körper in Tierfelle gewickelt hatten, saßen vor ihren Höhlen unter einem erbarmungslosen Himmel am Feuer und wünschten, es würde nicht erlöschen, ehe neues Holz geschlagen war, um die Flammen zu nähren. Sie wünschten, ihre Kinder mögen den Tag überleben, die Männer Essbares erbeuten, wilde Tiere nicht zu nahe herankommen, der Winter gnädig sein, der Sommer ebenso. Sie wussten nicht, dass sie wünschen. Sie kannten keine Verben, hatten keine Uhr, keine Kalender, keine Vorstellung davon, wie die Zeit vergeht und was mit einem geschieht, wenn etwas dauert. Sie konnten nicht an einem Wunsch festhalten. Und doch blieb er da.
Er war auch noch da, als ich geboren wurde. Ich lernte, dass ich „ich möchte bitte“ zu sagen habe und nicht „ich will“. Der Wunsch wollte nicht bedrängt werden. Und mit dem Älterwerden wurde mir klar, dass es sich bei ihm um einen Freigeist handelte, der mir zu verstehen gab, dass ich Teil der fortschreitenden Zeit bin, dass ich lebe.
Zuvor habe ich gehört, wie meine Mutter am Telefon zu meinem Vater sagte: „Ich möchte, das du zu uns zurückkommst.“ Herrje, sie hatte das „bitte“ vergessen! Gab es Wünsche, auf deren Erfüllung man einen Anspruch hatte? Als mein Vater einige Tage später den Koffer in unserem Flur abstellte, er und meine Mutter sich endlos lange in den Armen lagen und daraufhin eine Art schwungvolle Bewegung, das Scherzen und das freche Wird-schon-wieder in unsere Familie kamen, war klar, dass getrost auch mal Merkwürdiges geschehen konnte. Dass es einen einfachen Ausweg gab. Dass das Wünschen etwas mit glücklich sein zu tun hatte.
Deshalb war ich ein glückliches Kind. Ich wohnte in einem bescheidenen Land, in der Hälfte einer Stadt, die man schon vor meiner Geburt in der Mitte zerrissen hatte, an einer Straße, die ich vom Balkon unserer sehr kleinen Wohnung leicht überblicken konnte, ehe ich, nach viel zu kurzen Tagen, in meinem winzigen Zimmer einschlafen sollte. Ich war nie wirklich in diesem Bett, nie in dem Zimmer, der Straße, der Stadt, der Dunkelheit, denn ich hatte immer Wünsche.
Ich wollte besitzen und erleben. Ich wollte ein Klavier haben, das mir Musik macht, Rollschuhe, um mich um die eigene Achse drehen zu können, und für alle Fälle einen großen Bruder. Ich wollte die Urmenschen besuchen. Die Olympische Flamme entzünden. Für einen Tag und eine Nacht wollte ich werden: eine Squaw, die Schneekönigin, meine Katze, ein Rettungsschwimmer, eine Ampel, der Berliner Fernsehturm. Es ging mir gut. Ich fühlte mich nicht allein, denn die Suche nach Möglichkeiten war gesprächig. Ich spürte der Zeit nach, wie sie sich bewegte, ging mit und geradewegs in das hinein, was kommen würde. Ich war ein Kind im Verbund mit der Unendlichkeit.
Kürzlich wurde meine Tochter in einem U-Bahnschacht, durch den eilig Menschen drängten, jäh von einer Frau, deren Hintern urplötzlich nach oben ragte, gebremst. Sie stieß hart dagegen, ich stieß gegen sie, man stieß gegen mich, wir fielen. Die Tochter, schier erschüttert: „Wer bückt sich denn noch nach einem Cent?!“ Ich wünsche mir von meinen längst erwachsenen Kindern, dass sie mich nicht merkwürdig finden. Also habe ich für mich behalten, dass ich jeden Cent aufhebe. Dass ich ihn anspucke, über den Kopf hinter mich werfe und mir etwas wünsche.
Ich kann nicht sagen, wie oft mir ein Cent-Wurf-Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Ob überhaupt. Ich glaube an niemanden außer an mich selbst sowie an Menschen, die ich so gut kenne, dass ich ihnen vertraue. Glück ist: sich mit sich und anderen gut aufgehoben zu wissen. Ich glaube auch nicht an Gott, dem meine strenge Dresdner Großmutter stets ihr Begehren anvertraute, nicht ohne ihn daran zu erinnern, dass er sie am 13. Februar 1945 jämmerlich im Stich gelassen hat. Die Cents, die ich werfe, nehmen die kurze Flugbahn über einen Kopf hinweg, der weiß, dass das Glück nicht auf der Straße liegt, der keinen Anspruch auf Erfüllung von Wünschen erhebt. Sie landen auf dem Pflaster, rosten im Regen oder werden – sollte es noch solche Passanten geben wie mich – mit weiteren Wünschen konfrontiert.
Der Cent, der Pfennig, das Geldstück mit dem geringsten Wert, gehören zur unendlichen Geschichte des Wünschens. Sie sollten Wohlstand bescheren, mitunter war den Menschen Gesundheit und ein langes Leben wichtiger. Der gemeinsame Nenner, auf den es das Begehren brachte, war: Böses fernzuhalten. Eine meiner Freundinnen hatte, als sie am Bett ihres am Herz operierten Mannes wachte, einen Rosenquarz dabei. Esoteriker versprechen sich von dem Mineral Liebe und Fruchtbarkeit. Für meine Freundin hatte er einfach nur eine schöne Farbe, eine angenehme Oberfläche, er wurde warm und immer wärmer, als sie ihn tagelang mit einer Hand umschlossen hielt, während auf der Intensivstation außer den Anzeigen an den medizinischen Geräten nichts auf das heilsame Fortschreiten der Zeit hinwies.
Als eine meiner Töchter Jahre später plötzlich umfiel und für Stunden ihr Erinnerungsvermögen verlor, als mir keiner sagen konnte, was Schlimmes passiert war und noch passieren würde, brachte die Freundin mir den Stein ins Krankenhaus. Seither reichen wir ihn, wenn eine von uns nicht mehr weiter weiß, hin und her. Er gerät in Konflikte, an Ängste, Weltuntergänge. Die ihn gerade hat, redet still mit ihm, stellt Fragen über Fragen, ist unverhüllt und bedingungslos sehnsüchtig. Er kennt uns wie sonst keiner.
Ich meine damit nicht, dass er unsere Traurigkeit kennt. Vielmehr weiß er, wie intensiv wir in den Stunden, da sich der Kopf keine Vorstellung von der Zukunft mehr machen kann, anwesend sind. Er ist dabei, wenn unsere Sehnsucht sich zum Zustand verfestigt und uns antreibt, wenn wir, im Denken verunsichert, zu lernen beginnen. Er ist Teil unserer inneren Wanderns, des Suchens nach dem freiem Raum, in dem ein anderes Dasein möglich ist als das, was wir gerade eben haben. Er spürt, wie wir an ihm festhalten, dass wir wünschen, obwohl wir keinen Anspruch auf Wünsche haben: weil sie sich auf das Werden richten, weil sie das Leben selbst sind.
Warum gehen wir ins Freie, drehen „eine Runde um den Block“, wenn wir nicht mehr weiter wissen? Warum greifen wir nach dem Hausschlüssel und spazieren mit dem Hund durch den Wald? Warum treffen wir in den Bergen und auf Weitwanderwegen, wo man sich beharrlich aufs Vorwärtskommen konzentrieren muss, immer wieder Menschen an, die zu Hause in Problemen festgesteckt haben? Weil frische Luft guttut? Weil man auf der Straße andere Gesichter sieht, weil die Natur so schön ist? Nein. Das Gehen ist das, was wir ganz allein, ohne besondere Voraussetzungen tun können, um vom Hier ins Dort zu gelangen. Es ist unser Vermögen, das Fortschreiten. Wir erleben den Stillstand, werden von der Sehnsucht in Bewegung versetzt, um ihn zu verlassen.
Die Sehnsucht, die mich seit meiner Kindheit beherrscht, ist das Heimweh. Es zerrte an mir, sobald ich drauf und dran war, mich neu einzurichten. Im Sommer wurde ich ins Ferienlager geschickt, lag dort abends im Bett und heulte. Ich heulte auch bei meinen geliebten Großeltern in der Oberlausitz, wo der Juli und der August voller Schönheit und Freiheit waren. Ich kann nicht mehr sagen, was ich damals dachte, nur, dass ich die gewohnten Abläufe in Berlin vor Augen hatte, dass ich wusste, wer jetzt gerade ungefähr was tat, und immer diese leere Stelle sah, meinen Platz in alldem. Dass die Leere, das Nichts in meinem Kopf, mir Angst machte. Ich wusste nicht, dass mein Heimweh großes Glück war, denn wenn man mich dabei ertappte, war es ein Problem.
Heute fühlt sich mein Heimweh anders an. Es tut mir gut. Ich bin kein Kind mehr, weiß, wer ich bin, wohin und zu wem ich gehöre, und dass es sich bei alldem um meine Heimat handelt, die ich selbst mit erschaffen habe. Ich wünsche mich immerfort dorthin zurück. Das macht mich glücklich. Ich koste die Sehnsucht aus. Sie sprengt das Endliche. Die Fraglosigkeit. Das Auskennen. Die Urteilsfähigkeit. Den kleinen, beklemmenden Moment.
Ich frage mich: Wie ist die Lebensformel „wunschlos glücklich“ in unser Dasein gekommen? Sie spielt das Glück gegen den Wunsch aus! Setzt uns fest. Ihr zufolge ist unglücklich, wer sich auf etwas ausrichtet, das nicht hier ist, wer nach dem Anderen sucht, schließlich nach einer neuen Art zu leben. Ich habe diese Formel immer als sehr erwachsen empfunden. Erwachsene sagen: „Ach, ich brauche doch nichts!“ Erwachsene denken, ich komme jetzt auf die Industrie zu sprechen, auf die Gier danach, vom Wünschen der Menschen zu profitieren. Erwachsene, vom Hier und Jetzt eingefangen, verfallen Moden. Es ist nahezu aggressiv modern geworden, dem Konsum zu entsagen. Sich vom Markt etwas zu wünschen, wird als schlechte Eigenschaft verhöhnt. Aber auch die, die sich dem zufrieden geben mit dem, was sie haben und wer sie sind, haben sich damit einen Wunsch erfüllt: den, der Unrast zu entsagen.
Ich kaufe gern. Ich habe nicht viel Geld auszugeben. Ich stöbere in Trödelläden, ziehe an, was schon andere besaßen, spinne Geschichtenfäden, verwebe die Zeit, die die Kleider erlebt haben könnten, mit meiner. Vor kurzem habe ich meine Heimatstadt verlassen. Das letzte, was ich dort kaufte, ist ein kleines, in graugrünes Leder gefasstes Poesiealbum. Ich habe es bei mir. Der erste Eintrag ist von „Deine Mutti“, verfasst am 10. Januar 1933 in Berlin, knapp drei Wochen vor der Machtergreifung Hitlers. Ich kann Muttis Sütterlinschrift noch nicht vollständig entziffern. Die Großmutter, die auffälligere Buchstaben malte und deren Zeilen zittrig von links nach rechts schräg aufsteigen, vermerkt vier Seiten später: „Wenn des Lebens Stürme toben, winket immer Licht von oben.“ Der Reichskanzler ist längst zum Krieg entschlossen, als eine Mitschülerin schreibt: „Hab Sonnenaugen und die Welt wird sonnig sein!“ Polen, Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, ein Großteil Frankreichs, Jugoslawien und Griechenland haben die Deutschen bereits erobert, als Gerrit K. dem Büchlein 1941 den letzten Eintrag hinzufügt: „Schlägt dir die Hoffnung fehl, so lasse nie das Hoffen! Ein Tor ist zugetan, doch tausend sind noch offen.“
Die Menschen haben immer sich immer etwas gewünscht. Und sie tun das bis heute. Er geht ihnen nicht nur um sich selbst, sondern auch um die anderen. Sie wünschen einander einen guten Morgen, guten Tag, guten Abend, sie wünschen gute Reise, gutes Gelingen und gute Besserung. Wünsche, deren Erfüllung anderen zugute kommt, sind das, was uns miteinander verbindet. Mütter und Väter haben sie, Freunde, Verwandte, Nachbarn, Kollegen. An ihnen hängt der Besitz von geteiltem Glück. Sie sind das, was uns miteinander verbindet. Zuneigung, Liebe.
Früher, zu der Zeit, als auch ich ein Poesiealbum besaß, an guten Sonntagen, wenn meine oder seine Eltern dazu aufgelegt waren zu sagen: „Kinder, ihr habt einen Wunsch frei“, haben mein Freund aus dem Nachbarhaus und ich die Chance genutzt und uns gewünscht, viele Wünsche frei zu haben. Waren wir gierig? Oder hatten wir bereits, ohne das so formulieren zu können, verstanden, dass wir Wünsche brauchen würden? Dass wir von Möglichkeiten würden Abschied nehmen müssen, dass sich selbst mit jedem erfüllten Wunsch etwas erledigt hat und man es dann wieder mit der Endgültigkeit zu tun bekommt, über man doch immer hinauswill?
Heute offeriert mir selten noch jemand einen freien Wunsch und wenn doch, fällt mir sofort etwas ein. Ich bekomme es und freue mich, weil ich davon ausgehe, mir weiterhin viel wünschen zu dürfen. Ich kann gar nicht anders. Mein aufgeklärtes Hirn stellt fest: Du bist glücklich! Und mein Instinkt sagt mir, dass es jederzeit ratsam ist, meine Gedanken vorauszuschicken – in eine ungewisse Ferne. Dass die Zeit, die mir mein Leben zur Verfügung stellt, ein Weg ist, durchaus dazu geschaffen, auf ihm das gewöhnlich zur Verfügung stehende Maß an Gefühlen zu überschreiten.
Ich habe eine Wohnung, eine Hausnummer, eine Stadt, eine Heimat. Aber der Ort, an dem ich mich ununterbrochen aufhalte, bin ich selbst. In der Nacht habe ich sehr klare Träume. Manchmal tritt tatsächlich ein, wovon ich geträumt habe, weil ein Traum eine Spur hinterlassen hat, auf der ich mich bewege. Ich bin eine Romantikerin. Ich binde mich nicht an eine Religion, ich mag Traditionen und durchbreche sie, ich halte mich nicht strikt an Übereinkünfte. Ich habe immer ein Verlangen. Wäre schwindende Sehnsucht nicht Gleichgültigkeit? Kann, wer gleichgültig ist, sich am Ostseestrand am Sonnenuntergang ergötzen? Sieht er überhaupt den Horizont?
Der Wunsch lebt. Er hat diese langen Arme und er lässt nicht los. Er klopft nicht bei uns an. Man kann ihn nicht begrüßen, nicht hereinbitten, man kann ihm auch nicht die Tür vor der Nase zuschlagen. Und da er nun mal zu unserem unberechenbaren Dasein gehört, ist es nicht ausgeschlossen, dass wir uns, hat er sich eingenistet, verwünschen. Er ist wie die Melodie der Eiswagen, die an Sommerabenden durch Städte und Dörfer fahren. Sie halten an einer Straßenecke, öffnen ihre Fenster und bieten uns herrlich bunte Kühle an. Meist schmeckt das Eis nicht, das wir, vom Wohlklang angelockt, gekauft haben.
Oft, und lange bevor ich ihn verstanden habe, habe ich diesen Satz zu hören bekommen: „Da war wohl wieder der Wunsch der Vater des Gedankens.“ Er fiel immer dann, wenn etwas gescheitert war. Er zog das verbürgte Wissen der unverlässlichen Sehnsucht vor. Dabei war ich doch klüger: Es gab die Vergangenheit und das Jetzt, aber mein Kopf voller Wünsche kannte die Zukunft. Ich bin einverstanden, wenn sich ein Wunsch nicht erfüllt. Mein Glück ist: nicht alleingelassen zu werden. Und, wie gesagt: Die Suche nach Möglichkeiten ist sehr gesprächig.
Nadja Klinger