Es gab eine Zeit, da bekam ich ab und zu diesen Satz zu hören: „Da siehst du mal, was alles in dir drin steckt!“ Es war mein Trainer, der das sagte, und es war in den Jahren, als mein Leib täglich über den Parkettboden einer Sporthalle schrammte, meine Wirbelsäule eine durch Blutergüsse hervorgehobene Senkrechte war, die Hüftknochen aus Abschürfungen bestanden, die Sprungbänder meiner Füße ausleierten und ich mir so oft die Fingerknöchel verstauchte, dass sie dauerhaft zu etwas anschwollen, worüber man mir niemals ohne weiteres würde einen Ehering schieben können. Wir führten keine gute Beziehung, mein Körper und ich. Sie basierte darauf, dass ich mich nicht wirklich für ihn interessierte. Und so hat es mich gefreut zu hören, dass der brutale Aufwand einen Nutzen brachte.
Meine Daumen waren damals das Problem. Beim oberen Zuspiel, wenn sich die Arme nach dem Volleyball strecken, um ihn in der Luft möglichst punktgenau in den Schlag einer Angreiferin zu platzieren, müssen sie sich hinter den anderen gespreizten Fingern zurücknehmen; tun sie das nicht, gerät der Ball nicht in die vorgesehene Flugbahn, sondern wird in die Luft gestochert. Ausgerechnet diese beiden kleinen Gliedmaßen, durch die wir uns von niederen Säugetieren unterscheiden, die in Opposition zu den restlichen Fingern stehen und den Menschen befähigen zuzugreifen, wurden darauf trainiert sich rauszuhalten. Abends, wenn die Konzentration ermüdete, musste ich sie zuweilen mit Pflasterband in der gewünschten Stellung fixieren.
Viele Jahre später habe ich Klavierunterricht genommen. An der Klaviatur stellte sich heraus, dass ich aus dem bestand, was ich mir angewöhnt hatte. Die Gewohnheit war der Ort, an dem es mein Körper funktionierte, ohne etwas zu bedenken. Ich musste ihn austricksen. Dafür gab es nur einen einzigen Verbündeten: das Hirn. Ehe es meine zurückhaltenden Daumen wieder zum Mitmachen zwingen konnte, musste ich es überhaupt erst Mal darauf aufmerksam machen, dass sie noch da waren. Also habe ich auf jeden einen massiven Silberring gesteckt.
Seitdem sind nun auch schon wieder Jahre vergangen. Viel Zeit, um mir selbst auf die Schliche zu kommen. Ich drücke meine Daumen, und nicht selten glaube ich dabei mehr an diese beiden Finger als an denjenigen, dem ich wünsche, dass ihm etwas gelingen möge. Ich peile über den Daumen, um, wenn ich nur vage Bescheid weiß, meinen Aussagen Vertrauenswürdigkeit zukommen zu lassen. Ich rechne „Pi mal Daumen“ und zweifle nicht an dem Ergebnis – obwohl die irrationale Kreiszahl Pi zu den Dingen auf dieser Welt gehört, denen mein Verstand nicht gewachsen ist.
„Da hab ich den Daumen drauf“, hat mir neulich jemand entgegnet, als ich befürchtete, ein Geschehen würde kein gutes Ende nehmen. Er hat nicht wenigstens gesagt: Ich behalte das im Auge. Oder, was noch plausibler gewesen wäre: Ich kümmere mich drum. Geschweige denn: Ich hab’s im Griff. Trotzdem wurde ich zuversichtlich. Denn mit den Daumen, diesen unschönen, zweigliedrigen Körperteilen, offenbart das menschliche Leben seine beiden großen Geheimnisse. Das erste ist: Es geht darum, eine Sache überhaupt erst einmal anzupacken.
Wer mit einer Situation nicht klarkommt und die Hoffnung verliert, sagt: Ich hab das nicht „im Griff“. Komplizierte Umstände versuchen wir zu „begreifen“. Wer nicht glauben kann, was er zu hören bekommt, ruft: Das ist ja nicht zu „fassen“! Jeweils ein und dasselbe Verb ist zuständig für das, was das Gehirn kann, sowie für das, was die Hände zustande bringen. Womit wir wieder bei den Daumen wären. Sie beanspruchen deutlich größere Hirnareale als alle anderen Finger – jedoch nicht nur um zuzugreifen, sondern auch für die Empfänglichkeit ihrer Kuppen. Hier steckt das zweite große Geheimnis: Alles, was wir zustande bringen, kommt aus dem Kopf.
Was ich hier erzähle, ist an die beiden Männer gerichtet, mit denen zusammen ich mehrere Jahre lang in einem Büro gearbeitet habe. An den Mann, der es geschafft hat, einen Ehering über meinen Fingerknöchel zu schieben, und seitdem zahllose meiner Topfpflanzen auf dem Gewissen hat. An jede Person, bei der ich eines Tages einziehen könnte. Sowie an die Frauen, mit denen ich gerade zusammenwohne.
Eure Zierpflanzen führen ein Dasein, aber sie haben kein Leben. Das Bier, das ihr euch zum Feierabend in ihrer Gesellschaft auf der Terrasse gönnt, versetzt nur euch in die Lage, in der alles gut ist, wie es ist – nicht aber sie. Irgendwie müssen Nährstoffe in die Blumentöpfe gelangen. Das bekommt ihr in etwa auf dieselbe Art hin wie bei eurem großen Kühlschrank. Nein, ihr habt nicht die impotenten Sorten erwischt, eure Sträucher treiben keine Blüten, weil es für den, der am Existenzminimum kauert, kaum ratsam ist, sich auch noch zu vermehren. Ach? Obendrein werfen die Sträucher die Blätter ab? Weil wir so eine Hitze haben? Weil in der Nacht ein starker Wind ging? Nein! Sie machen auf sich aufmerksam! Euer „Grünzeug“ sieht nicht traurig aus, es ist traurig. Und ich habe KEINEN grünen Daumen.
Meine erste eigene Pflanze war eine Klivie. Die alte Nachbarin, die manchmal unsere Katze fütterte, hat sie mir zum vierzehnten Geburtstag geschenkt: drei dunkelgrüne, krautige Blätter, in einem Topf, der aufs schmale Fensterbrett eines Kinderzimmers passte, in dem eine hässliche Pubertierende an zähflüssigen Nachmittagen ihre Sehnsüchte auf die Dachschräge überm Bett projizierte – unterbrochen von den Momenten, da sie ihr Antlitz im Badspiegel nach hoffnungsvollen Entwicklungen absuchte. Die Klivie war die reine Provokation. Ich sollte mich kümmern.
Ich stellte der Nachbarsfrau die Frage, die ich von Erwachsenen kannte. Es ist die Frage aller Menschen, die sich selbst dauerhaft ein Rätsel sind und den Topfpflanzen dafür die Schuld geben. Die Frage, die aus der Trotzecke fortgeschrittenen Lebens kommt und Verantwortung zurückweist: „Wie oft muss man die gießen?“
Plötzlich war da also die Klivie, die sich ebenso wenig bewegte wie ich, sich mehr an ihre Wurzeln klammerte als diese an ihr festhielten, und sofort aus der aufrechten Haltung kippte, als ich einmal ihren kleinen Topf woandershin stellen wollte. Sie war gesund so wie ich, aber im Spiegel hätte auch sie keine Attraktion zu sehen bekommen. Im Grunde haben wir beide immer nur nach dem Licht geschaut. Irgendwann einmal wollten wir blühen. Und wenn die Sonne tagelang nicht am Himmel war, habe ich auf meinem Platz unter der Dachschräge gehört, wie die Klivie seufzte.
Und ja, ich begann, mit ihr zu sprechen. Die Clivia nobilis, so ihr korrekter Name, stammt aus dem südlichen Afrika. Einer ihrer Vorfahren ist im 18. Jahrhundert in die Hände einer europäischen Herzogin geraten. Die hat ihn daheim in der englischen Grafschaft kultiviert, zum Blühen gebracht und nach ihrem Mädchennamen, Clive, benannt. So wie ich, konnte sich auch meine Topfpflanze erst ab einem bestimmten Alter vermehren. Gemeinsam warteten wir ab. Ich beneidete sie, weil in ihrer Familie die Fortpflanzung jeder ganz für sich allein erledigte. Denn das Problem, dass mich eines Tages zu diesem Zweck ein Mann wenigstens hinreichend attraktiv finden müsste, war mein allergrößtes.
Meine Klivie hat aus dem Kinderzimmerfenster hinunter aufs Gartentor vor meinem Elternhaus geschaut – all die Jahre, in denen ich weg war, um Volleyball zu spielen. Später hat sie jenen Winter überlebt, in dem ich das Haus nur noch allein bewohnte, Kette rauchende Freunde bei mir einzogen, uns die Kohlen ausgingen, weshalb dann die Wasserleitung einfror. Ich habe sie vernachlässigt, mit meinen Gästen im Untergeschoss vorm Kaminfeuer gelungert, und ich glaube, sie hat ausgeharrt, weil es in dieser Zeit so schien, als könnte sich vielleicht doch jemand in mich verlieben.
Pflanzen sind Lebewesen. Sie beherrschen den Stoffwechsel, haben die Fähigkeit zur Selbstreproduktion und sind genetisch variabel. Meine Klivie unterscheidet sich von anderen Klivien, weil sie bei mir lebt. Wir sind ein Paar. Wir führen eine Langzeitbeziehung. Bis heute.
Immer mal wieder ist die Klivie mit mir in eine andere Bleibe gezogen. Die meiste Zeit hat sie in der letzten Wohnung auf einem Blumentisch am Küchenfenster verbracht. Über die Jahrzehnte hinweg haben ihre weißen, saftigen, ineinander verknoteten Wurzeln mehrmals Tontöpfe gesprengt. Ich musste immer größere heranschaffen, habe insgesamt bestimmt 300 Kilo Erde verbraucht, irgendwann konnte ich meine Topfpflanze alleine nicht mehr anheben. Einmal habe ich mit einem Sägeblatt einen Teil ihres Wurzelballens abgeschnitten. Ritsch, ratsch, ritsch, ratsch. Es sah aus wie Mord. Danach hatte ich eine große Klivie sowie eine kleinere, die ich, weil im Süden kein Platz mehr war, an ein Nordseitenfenster unserer Wohnung stellte.
Beide Pflanzen waren verletzt, aber die Wunden heilten. Beide standen da mit einen Dickicht aus mehrere Zentimeter breiten, fast einen Meter langen Blättern. Die im Norden waren dunkelgrün und friedfertig, den Topf im Süden musste ich immer mal wieder drehen, weil das deutlich hellere Laub sich übermütig in die Richtung warf, aus der die Sonne kam. Vor über zwanzig Jahren begann die Südklivie Dolden auszutreiben, an denen üppige Büschel aus orangefarbenen Glocken hingen, und die zu kirschgroßen roten Beeren reiften, sobald die Blüten abgefallen waren. In jeder Beere hockt eine neue Klivie: ein fingernagelgroßes gekrümmtes Blatt.
Immer wieder mal habe ich Keimlinge unweit der Mutterpflanze in Erde gesetzt. Alle hockten sie eine ganze Weile einfach da. Ich habe nach ihnen geschaut, sie versorgt, mit ihnen geredet. Sie haben sich vertrauensvoll aufgerichtet, wie um zu sehen, wo sie eigentlich sind. Ihr Blick traf die Südklivie, diese stolze Schönheit, die unverhofft vor vielen, vielen Jahren, an die Liebe ihres Lebens geraten ist. Wahrscheinlich haben die kleinen Ableger auch den „Blumenzettel“ gesehen, der am Kühlschrank klebte und mit aggressiver Rotstiftschrift alle Familienmitglieder draufhinwies, dass, wenn ich mal ein paar Tage nicht anwesend bin, die Klivien trotzdem weiterleben wollen. Den Topfpflanzen dieser Welt ist kaum zu verübeln, dass sie nicht ans Glück glauben. Keiner der Keimlinge entschloss sich zu leben.
Ja, ich habe im Zusammenleben mit meiner Klivie immer wieder den Daumen benutzt. Ich habe angepackt: welke Blätter und Blüten entfernt, die Gießkanne gehalten, die Erde erneuert, Dünger mit Wasser vermengt, die Beeren eingesammelt, um die Chance auf eine neue Pflanze ans Licht zu pulen. Aber mein Daumen ist kein Alleingänger. Im Umgang mit dem Material dieser Welt hat er handwerkliche Intelligenz entwickelt. Dazu brauchte er: meine Aufmerksamkeit, meine Fantasie, meine Improvisationsfähigkeit, meine Kombinationsgabe, mein kausales Denken. Er ist nicht schlicht grün, sondern aufwändig sinnlich. Er ist vom Glück beseelt, mit dem Handwerk, auf das er sich versteht, unmittelbar ins Leben, das aus Werden und Vergehen besteht, eingebunden zu sein. Er wittert, wenn sich am Zustand einer meiner Klivien etwas verändert. Er trauert, wenn es ihr nicht gutgeht. Und er glaubt. Daran, dass sie spürt: wenn ich aufbreche, weg bin, lange nicht wiederkomme. Denn er ist – so wie alle Daumen weit und breit – mit einem Hirn verknüpft.
Im letzten Sommer habe ich mich von der Nord- und der Südklivie getrennt. Ich bin für Jahre weit weg und es war unmöglich, sie mitzunehmen. Wenn ich gegen Mittag meine kraftvollsten Stunden habe, ist für die beiden bald schon wieder Nacht. Ich kann auf der App sehen, welches Wetter sie gerade haben, aber ich weiß nicht, ob sich dort, so sie jetzt leben, gerade Wolken vor die Sonne geschoben haben. Ich habe Topfpflanzen hier, wo ich jetzt bin, die räkeln sich unter meiner Zuneigung, aber es gibt da einen Schatten: Mir ist, als würde ich die Klivien betrügen.
Zu dritt haben wir sie im letzten Sommer die Treppen runtergehievt: eine Freundin, die sich getraut hat, sie in Obhut zu nehmen („Wie oft muss ich sie gießen?“), ein Mann, der ein großes Auto besitzt, und ich. Das prachtvoll dichte Blattwerk der Pflanzen verhinderte, dass wir sehen konnten, wo wir hintreten, es war ein heikler Abstieg und ich hatte Angst um die Klivien. Vorm Haus fiel die Hitze über uns her, und ich bettelte, dass alles schneller gehen sollte. Im Auto habe ich die Töpfe mit Decken und Kissen fixiert, nervös an der Klimaanlage herumgeschaltet, um etwas hinzubekommen, das sie vorm Ersticken bewahrt, ihnen aber auch keinen Kälteschreck einjagt. Ich habe auf der Mitte der Straße gestanden und gewinkt.
Meine mutige Freundin schickt mir Fotografien: Ein Sonnenstrahl, der sich im Laub einer der Klivien bricht. Beeren, die über den Fußboden unters Regal gerollt sind. Weiße Wurzelfinger, die eines Morgens aus der Erde gucken. Kurz vor Weihnachten war sie da: die erste Glockenblüte der Südklivie im neuen Zuhause. Die Bilder kommen mit der Post, sind aus Papier. „Freu mich!“, steht auf jedem hintendrauf. Und ich? Freue mich wie verrückt. Streiche mit dem Daumen drüber.
Nadja Klinger